Die Live Radio-Show „Bildfunk“ an der Staatsgalerie Stuttgart
Dieses Format ist ein doppeltes Wagnis: Nicht Experten und Kuratoren sprechen über Kunst, sondern Besucher:innen. Und diese wagen es, ihre subjektive Perspektive einzubringen.
Die altehrwürdige Staatsgalerie, die in den letzten 10 Jahren an Publikum und Zugänglichkeit verloren hat, geht erfolgreich einen neuen, innovativen Weg.
Freudig überrascht waren auch Ida Liliom und Manuel Minniti von Queerdenker* Stuttgart, einem Verein für die LSBTTIQ+-Community (e.V. seit 2017 und im klaren Gegensatz zu den „Querdenkern“) über die Einladung, um ihre Sicht auf die Sammlung und ein von ihnen ausgewähltes Kunstwerk zu diskutieren.
Mit den Gastgebern Christian Müller, Moderator und Dramaturg vom CitizenKANE.Kollektiv und Thomas Milz, legendäre Museumsaufsicht im Haus, durchstreiften sie im Vorfeld die Staatsgalerie auf der Suche nach einem passenden Kunstwerk für Folge 3 der Radio Show BILDFUNK.
Das Anliegen von Müller & Milz ist es, die Kunstwerke zu „Themen der Stunde“ wie Gendergerechtigkeit, Rassismus, Sexismus, Klimaschutz und Demokratie zu befragen.
Zu den subjektiven und ambivalenten Gesprächen laden sie Vertreterinnen* unterschiedlichster Communities aus Stuttgart ein. Folge 1: zu „Rassismus“ mit Kousar Qasim von der Black Community Foundation Stuttgart und Folge 2: über „Heimat“ mit der Landtagspräsidentin Muhterem Aras, sind auch weiterhin auf der Website verfügbar.
Im Zentrum von Folge 3 steht das Kunstwerk „Messkasten“ von Rebecca Horn:
„Die Installation von 1970 besteht aus einem schwarzen Quader mit silbernen Stäben, die in der Mitte des Quaders eine Lücke in Form eines menschlichen Körpers bilden. Dieses Positiv-Bild eines Körpers verweigert sich so einer konkreten Lesbarkeit als weiblich oder männlich. Unmittelbar stellt sich die Frage nach dem abwesenden Individuum und es liegt also an uns, was wir sehen. „
Mir gefällt der Moderationsstil von Christian Müller. Es beginnt mit einer schnellen Runde von Entweder-Oder Fragen wie „Uni oder Feiern?“, „Rubens oder Giacometti?“ und „cis oder dis?“.
Was bedeutet „Cis“ in diesem Kontext?
Ich bin dankbar, dass nun eine Reihe von Begriffen vorgestellt und erläutert werden, die es mir ermöglichen der kommenden Diskussion gut zu folgen.
„Cis-gender“ beschreibt im Gegensatz zu“ trans-gender“ Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem körperlichen Geschlecht übereinstimmt.
Thomas Milz bereichert den Diskurs nicht nur mit seinem kunsthistorischen Hintergrundwissen, sondern vor allem mit seiner ganz persönlichen Sicht auf die Dinge. Rebecca Horn sei für ihn eine der witzigsten Künstlerinnen überhaupt. Aus ihm spricht eine tiefe Empathie und Begeisterung für Kunst und Menschen. Er steht dazu, ein „old white cis dude“ zu sein und beschreibt aus der Perspektive der „anderen Generation“ seine persönlichen Erfahrungen mit der Frauenbewegung der 70er Jahre.
Die beiden Gäste bekommen in der einstündigen Live-Sendung viel Raum. Sie erzählen von ihrem Engagement und ihren Erfahrungen. Angeregt von Rebecca Horns „Messkasten“ geht es um Fragestellungen von Maß und Norm, Gender Trouble und Identität, Körperlichkeit jenseits von Schmerz, und ob eine privilegierte Gruppe automatisch auch glücklich ist.
„Fühlt Ihr euch hier repräsentiert? Sollte hier auch andere Kunst gesammelt werden?“
Beim Rundgang durch die Sammlungen fühlten sich die Gäste eher im Bereich der zeitgenössischen Kunst heimisch. Ja, sie wünschen sich mehr Kunstwerke mit einer queeren Perspektive. Eine Zensur „belasteter“ Werke schließen sie jedoch vehement aus. Sie wünschen sich aber eine gut zugängliche Kontextualisierung der Werke. Zum Beispiel könnten die „Geschichten hinter den Bildern“ per QR Codes abrufbar sein. Die Idee, mit einer queeren Gruppe einen Diskussions-Rundgang durch die Sammlungen zu machen, stieß bei Thomas Milz auf unerwartet große Begeisterung.
Eine bessere Zugänglichkeit wünschen sie sich auch beim Thema Eintrittspreise und Öffnungszeiten, hin zu einem „Open Museum“.
Auch an das Kunstwerk „Messkasten“ gibt es einen Wunsch: Alle Stäbe bis zum Anschlag rausschieben, dann entstünde ein Freiraum in den alle Personen, Identitäten und Körper ein und aus- gehen könnten, ohne die Einschränkungen der „abgetasteten Körpersilhouette“.
Thomas Milz denkt laut darüber nach ob diese Art der Öffnung zumindest stundenweise möglich gemacht werden kann.
Eine beglückende, Mut machende Stunde, so kann Museumspraxis aussehen!
Ich hoffe, die Chance wird weiterhin genutzt, diese Impulse in die „DNA“ des Hauses zu implementieren. Für ein Nischendasein im Rahmenprogramm ist dieses Dialog-Format viel zu schade.
Die Reihe ist eine Kooperation mit dem Freien Radio für Stuttgart und dem Citizen.KANE.Kollektiv.
Fotos: Screenshots des Youtube-Streams, Staatsgalerie Stuttgart